Wissenschaft und Shakespeare: Nah-Infrarotspektroskopie zur Messung kortikaler Aktivität

Bilder aus dem Gehirn zu erfassen, was passiert, wenn Menschen im sozialen Austausch sind, verlangte bisher von den Versuchsteilnehmern, sich in einem kontrollierten Umfeld, einem Labor aufzuhalten. Mit einer neuen Technologie von Shimadzu zeigen Forscher vom University College London, dass sich Versuche dieser Art jetzt auch außerhalb des Labors durchführen lassen, etwa auf einer Theaterbühne.

Es waren nur noch wenige Tage bis zum ersten Auftritt vor Live-Publikum. Während einer Probe beobachtete Antonia Hamilton, Professorin am Institut für kognitive Neurowissenschaften des University College London (UCL), die Schauspieler bei den Proben eines Stücks von Shakespeare. Normalerweise ziehen Neurowissenschaftler Bücher mit „Neuron” und „Wahrnehmung” im Titel gegenüber „Hamlet” oder „Mitsommernachtstraum” vor, aber Hamilton ist überzeugt, dass die Darsteller zu studieren, neue Erkenntnisse über die menschliche Wahrnehmung und Kognition sozialer Interaktion bringen und die Unterschiede zur Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung von autistischen Personen aufzeigen könnte.

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Dr. Ilias Tachtsidis und Prof. Antonia Hamilton

Autismus-Spektrum-Störung (Autism spectrum condition = ASC) ist eine Neuroentwicklungsstörung, die die Sozial- und Kommunikationskompetenzen beeinflusst. In den Vereinigten Staaten wird derzeit bei einem von 68 Kindern ASC [1] diagnostiziert, aber es bleibt ein dringender Bedarf für verbesserte Diagnosen; es werden effektive Wege gesucht, diesen Kindern beim Erlernen sozialer Fähigkeiten zu helfen.

Die Idee, Schauspieler zur Untersuchung von ASC einzusetzen, kam Hamilton, als sie fünf Jahre zuvor von der Theaterdirektorin und Schauspielerin Kelly Hunter kontaktiert wurde, die Aufführungen in die Therapie für Autisten einbezog. Hamilton besuchte Hunters Arbeit und erkannte einen möglichen wissenschaftlichen Ansatz, insbesondere durch ihren Zugang zur funktionellen Nah-Infrarotspektroskopie von Shimadzu, speziell fNIRS (functional near infrared spectroscopy). fNIRS ist eine nicht-invasive Methode, die Infrarotlicht nutzt, um kortikale Aktivität zu messen, die sich im autistischen Gehirn anders darstellen könnte.

»Ein Schauspieler ist berufsbedingt darauf trainiert, gleiche Interaktionen immer wieder vorzuführen. Das bedeutet, dass wir die Hirnaktivitätsmuster dieser Interaktionen über viele Wiederholungen messen können, um ein valides Hirnsignal zu erhalten«, sagt Hamilton.

Nach Beobachtung von Hunters Arbeit, schloss Hamilton: »Ich erkannte, dass es ein guter experimenteller Impuls sein würde, den wir mit einer Bildgebung des Gehirns kombinieren könnten. Da ich Zugang zum fNIRS System von Shimadzu und zu Ilias hatte, dachte ich: ‚Lasst es uns zusammenfügen.‘«

fNIRS und Sauerstoffanreicherung im Blut

„Ilias” ist Dr. Ilias Tachtsidis, außerordentlicher Professor am UCL im Fachbereich für medizinische Physik und Biomedizintechnik und ein Wellcome Trust Senior Fellow, der fNIRS für den klinischen Einsatz entwickelt. Vor der Anwendung von fNIRS auf ASC hat Tachtsidis ihre Vorteile in neonatalen Einrichtungen gezeigt, mit der Ärzte einen schnellen Zugang zum Zustand reaktionsarmer Säuglinge haben [2]. In diesen Fällen ist eine der dringendsten Schlussfolgerungen, ob das Gehirn genügend mit Sauerstoff versorgt wird.

»Der offizielle Fachbegriff lautet‚ hypoxisch-ischämischer Vorfall‘, oft auch bezeichnet als ‚Geburts asphyxie.‘ Säuglinge mit einer schweren Geburts asphyxie werden an einer erheblichen Hirn schädigung leiden und zeigen im späteren Leben wahrscheinlich ernsthafte Entwicklungsstörungen des Nervensystems«, sagt Tachtsidis.

»Es gibt wichtige Hinweise, die das medizinische Personal solche Vorfälle vermuten lassen: Der Säugling ist blau. Er atmet nicht gut. Er ist reaktionslos. Aber die Ärzte besitzen keine direkte Gehirn-Messmethode.«

Nah-Infrarotlicht kann gerade tief genug ins Gehirn eindringen, um Ereignisse etwa 20 mm unterhalb der Kopfhaut zu messen. Da sauerstoffreiches und sauerstoffarmes Hämoglobin unterschiedliche Farben haben, können Messungen der Lichtabsorption im Kortex eine quantitative Hämoglobinanalyse liefern. Daher ist fNIRS ein starkes Forschungswerkzeug, um Hirnregionen zu identifizieren, die unerwartet inaktiv sind. Diese Information könnte für Forschung & Entwicklung von neuen therapeutischen Strategien hilfreich sein, sei es für einen hypoxisch-ischämischen Vorfall bei Säuglin gen oder – in dem neuen Projekt – für Kinder mit ASC.

Verschiedene Untersuchungen haben die Nützlichkeit des Neuro-Imaging gezeigt, um bei ASC Unterschiede in der Wahrnehmung quantitativ zu messen; es laufen Bestrebungen, diese Technik einzusetzen, um die Empfindlichkeit von Verhaltensanalysen zu verbessern. Allerdings erfordern viele der bildgebenden Verfahren, wie die funktionelle Magnetresonanz-Tomographie (functional magnetic resonance imaging = fMRI), die wohl die detailliertesten Bilder des Gehirns liefert, eine Erfassung des Untersuchungsgegenstands unter wenig idealen Bedingungen.

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»In der Maske« des UCL (University College London)

»Sie müssen die Menschen in einen Scanner stecken, zumeist im Keller, und sie müssen dort ruhig ausharren. Es ist eine sehr künstliche Umgebung. Nicht jeder Patient reagiert positiv auf eine fMRI, und nicht jeder Patient sollte in einen MRI-Scanner gesteckt werden«, sagt Tachtsidis.

Demgegenüber sind Geräte wie das fNIRS von Shimadzu transportabel und erlauben Messungen, die außerhalb des Labors stattfinden; zudem werden andere Vitalwerte gleichzeitig erfasst, wie Blutdruck, Herzschlag und Körpertemperatur. In der neuesten Version, LIGHTNIRS*, geht die Transportierbarkeit noch einen Schritt weiter; sie erlaubt es Wissenschaftlern, Menschen bei normalen sozialen Interaktionen zu beobachten.

Beispiellose Mobilität

Tachtsidis sagt, dass LIGHTNIRS eines der höchstentwickelten kommerziellen Geräte für den Forschungseinsatz in Rehabilitation und Robotik ist.

»Das Gerät ist vollkommen neuartig. Es nutzt drei Wellenlängen des Lichts. Wenn man zwei Moleküle auflösen will, benötigt man mindestens zwei Wellenlängen. Je mehr Wellenlängen zur Verfügung stehen, desto besser ist die Quantifizierung”, sagt er.

Die neu hinzugefügten Geräte-Eigenschaften überraschen Tachtsidis nicht angesichts seiner Erfahrung mit Shimadzu und der fNIRS-Industrie.

»In unserer Wissenschaftsgemeinschaft kennen wir Shimadzu. Es war eines der ersten Unternehmen, das diese Technologie kommerzialisiert hat. Das zeigt uns, wie Innovation in diesem Unternehmen umgesetzt wird. Ich konnte erkennen, dass Shimadzu frühzeitig ein hohes Risiko eingegangen ist«, sagt er. 

LIGHTNIRS besteht aus einer Kopfhaube, ähnlich einer schwarzen Badekappe, und einem kleinen Rucksack, wie ihn auch Lang streckenläufer tragen [3]. Die Kopfbedeckung ist flexibel, so dass sie sich allen Größen anpasst, vom Kind bis zum Erwachsenen. Die Messsonden lassen sich an unterschiedlichen Positionen setzen. Diese Ausstattung erlaubt fNIRS-Experimente außerhalb des Labors, also auch auf einer Thea terbühne. Um die erfassten Daten in Hamiltons Projekt nutzbar zu machen, ist eine Reproduzierbar keit der Versuche unerlässlich. Tachtsidis und Shimadzu haben Datenerfassung und Analysesoft ware angepasst, um für Hamilton sicherzustellen, dass die Daten so zuverlässig sind, als hätte sie sie in ihrem Labor erhoben.

»Wir brauchen reproduzierbare Interaktionen. Wir haben unsere Darsteller die gleichen Szenen 8- bis 10-mal spielen lassen. Das gibt uns einen ausreichenden Signalumfang, um das Muster der Hirnaktivität zu erkennen«, sagt sie.

Da Schauspieler darin außergewöhnlich sind, Handlungen selbstähnlich zu wiederholen, erhofft sich Hamilton, eine Datenbank aufbauen zu können, die das Ver halten des Gehirns im Verlauf bestimmter sozialer Wechselwir kungen dokumentiert. Diese kann dann als Basis genutzt werden, Hirnanomalien bei Menschen mit sozialen Defiziten zu erkennen.

Hamilton beurteilt ihren Ansatz als einzigartig. »Soweit ich weiß, hat weltweit niemand bildgebende Hirndaten vor Publikum erfasst«, sagt sie. Gleichwohl bleibt das Hauptanliegen des Pro jektes eindeutig:

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Vorhang auf! »Rucksack« und »Badekappe« bereit zum Einsatz

»Anhand von Beobachtungen, wie sich ein Gehirn bei bestimmten sozialen Interaktionen verhält, wollen wir Verhaltenstherapien finden, die es für autistische Kinder angenehmer machen, mit Menschen zu interagieren.«

 

• LIGHTNIRS ist ein transportables funktionelles Nah-Infrarotsystem für die Forschung https://www.shimadzu.com/an/lifescience/imaging/nirs/light_top.html

• Die Information inklusive Partner und Titel von Personen in diesem Artikel entsprechen dem Zeitpunkt der Interviews (Mai 2019).

Literatur
[1] Baio, J. et al. Prevalence of Autism Spectrum Disorder Among Children Aged 8 Years – Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network, 11 Sites, United States, 2014. MMWR Surveill Summ 67, 1-23, doi:10.15585/mmwr.ss6706a1 (2018).
[2] Bale, G. et al. Oxygen dependency of mitochondrial metabolism indicates outcome of newborn brain injury. J Cereb Blood Flow Metab, 271678X18777928, doi:10.1177/0271678X18777928 (2018).
[3] Pinti, P. et al. Using Fiberless, Wearable fNIRS to Monitor Brain Activity in Real-world Cognitive Tasks. J Vis Exp, doi:10.3791/53336 (2015).

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Prof. Hamilton erklärt dem Publikum fNIRS

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